Das alte Chemiewerk
Es ist ein kalter Wintertag und die Sonne scheint mir ins Gesicht, als ich die ersten Schritte über das Gelände des alten Chemiewerks mache. Es geht über die großen, mittlerweile zerbrochenen Betonplatten, vorbei an einem kleinen Pförtnerhäuschen weiter hinein in das riesige Areal. Der kalte Wind weht an den alten Fassaden vorbei und sorgt dafür, dass mir bereits jetzt die Finger weh tun.
Hier wartet eine fast surreale Kulisse auf mich. Egal, wo man hinsieht, überall stehen graue Betonriesen. Riesige Hallen, hohe Türme und endlose Treppen. In der ersten großen Halle stehen noch ein paar Tanks auf dem Boden, die mittlerweile natürlich mit Graffitis überzogen wurden. Das sind aber auch die einzigen Farben, die man hier wahrnimmt. Es wirkt fast so, als würde man durch einen Schwarz-Weiß Film laufen und dieser Eindruck soll sich auch durch die übrigen Gebäude des alten Chemiewerks ziehen.
Jedes der Gebäude hat irgendwo eine schier endlose Betontreppe, die selbst nach so langer Zeit noch vertrauenserweckend wirken, was man von den Handläufen aus Metall leider nicht sagen kann. Einige Stockwerke lasse ich daher lieber aus. Ich möchte gerne ohne Unfall wieder nach Hause fahren. Hin und wieder laufen mir andere neugierige Besucher über den Weg, ein Geheimtipp ist dieser Lost Place schließlich schon seit Jahren nicht mehr. Das ändert aber nichts daran, dass die Bauwerke wahnsinnig imposant sind. Ich frage mich, wie lange dieses Gelände noch erhalten bleibt. Das hier alles abzureißen würde auf jeden Fall ganz schön lange dauern.
Die Historie
Die Geschichte des VEB Chemiewerk Coswig, Betriebsteil Rüdersdorf geht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Schon damals gab es hier einen Kalkstein Tagebau, der Berlin und Brandenburg mit Baumaterialien versorgte. So findet sich dieser Kalkstein heute unter Anderem im Brandenburger Tor und auch im Schloss Sanssouci in Potsdam wieder. Mitte des 19. Jahrhunderts ging der Bedarf an Kalkstein stark zurück, da von nun an hauptsächlich Beton für den Bau von Gebäuden genutzt wurde.
Dieser erhöhte Bedarf sorgte auch für die Gründung des ersten Zementwerks in Rüdersdorf, wo die Firma C.O. Wegener an diesem Standort ein Zementwerk errichten ließ. Im Februar 1900 begann hier dann die Produktion. In einem gefährlichen Prozess wurde hier dann in modernen Drehrohröfen bis in das Jahr 1939 Zement gebrannt. Danach erwarb die Preußag das Werk und stellte hier kriegsbedingt ab 1944 synthetisches Bauxit her.
Nach dem Krieg demontierten die sowjetischen Besatzungsmächte das Werk und wollten hier nun Düngemittel produzieren. Ab 1950 erzeugt das VEB Glühphosphatwerk Rüdersdorf somit anstatt Zement Magnesiumphosphat. In den 1970er Jahren sollte dann die Produktion auf ein bestimmtes Calcium-Natrium-Phosphat umgestellt werden, das dringend für die industrielle Tierhaltung in der DDR benötigt wurde. Das gelang zunächst nicht, weshalb das Werk erneut umgebaut und erweitert werden musste. Nach der Erweiterung konnte hier nun ein hochwertiges Futterphosphat produziert werden, das dann sogar europaweit unter dem Namen RÜKANA vertrieben wurde. Im Jahr 1988 wurden hier insgesamt 180.000 Tonnen Futtermittel produziert.
Der Betrieb wurde auch nach der Wiedervereinigung aufrecht erhalten, bis das Unternehmen dann im Jahr 1999 Insolvenz anmelden musste. Seitdem dient dieser verlassene Ort als Kulisse für Filme, Serien und Musikvideos. Unter anderem wurden hier Szenen aus The Monuments Men und Enemy at the Gates gedreht.